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Die Demonstrationen der Neonazis von 21.09.2018 haben bundesweite Empörung ausgelöst. Offen ausgelebeter Antisemtismus und das Zünden von Pyrotechnik lieferten schockierende Bilder und Videos. Mit diesem Text möchten wir nicht nur von aktuellen Ereignissen berichten, sondern den Aufmarsch der Neonazis analysieren und einordnen.

Am 15. September feierte die Dorstfelder Zivilgesellschaft ein Fest unter dem Motto „44149 Platz für Vielfalt“ auf dem Wilhelmplatz. Neonazis haben dieses Fest zunächst beobachtend begleitet, störten es aber aktiv zu Beginn der politischen Talkrunde, bei der u.a. der Oberbürgermeister, Ullrich Sierau, teilgenommen hat. Die Einsatzkräfte reagierten zügig auf die Störungen der Neonazis und nahmen an diesem Tag 9 Personen der rechtsextremen Szene in Gewahrsam und haben 5 Strafanzeigen gestellt. Die Störung war keine Überraschung , weil es sich um eine gewollte Eskalation, die durch Neonazis angekündigt und damit absehbar war.

Als Reaktion auf die Ereignisse bei dem Fest wurden am darauffolgenden Freitag rechtsextreme Demonstrationen „gegen Polizeischikanen und Polizeiwillkür“ in Dorstfeld und Marten veranstaltet, um sich als Opfer von polizeilichen Repressionen zu inszenieren. Kein neues Phänomen in Dortmund – immer wieder veranstalten Neonazis nach staatlichen Repressionsmaßnahmen Demonstrationen und Kundgebungen gegen angebliche Willkür der Polizei – so zum Beispiel an Heiligabend im Jahr 2016, nachdem in Dortmund-Dorstfeld auf dem Wilhelmplatz eine polizeiliche Dauerpräsenz als Reaktion auf den rechtsextremen Raumkampf eingerichtet wurde.

Welchen Zweck haben solche Demonstrationen?

Die jüngsten Demonstrationen fanden in den Stadtteilen Dorstfeld und Marten statt, die als Aktionsräume der rechtsextremen Szene in Dortmund gelten können. Insbesondere Dorstfeld mit dem Wilhelmplatz ist ein zentraler Aktionsraum, in dem Neonazis immer wieder versuchen, eine politische Deutungshoheit zu erlangen. Insgesamt haben rund 100 Personen an der Demonstration in Dorstfeld teilgenommen, während in Marten rund 70 Personen mitgelaufen sind. Marten ist ein Stadtteil, der mit ähnlichen Versuchen des rechtsextremen Raumkampfes konfrontiert ist, wenngleich auch nicht so ausgeprägt. So fanden also die Demonstrationen in Stadtteilen statt, in denen Neonazis immer wieder agieren. Die Selbstinszenierung funktioniert daher besonders gut und der Mythos des „Nazi-Kiez“ wird aufrechterhalten. Dabei wurden Sprüche wie „Dortmund-Dorstfeld unser Kiez“ und antisemitische Parolen wie „Wer Deutschland nicht liebt, ist Antisemit“ skandiert. Antisemitismus spielt eine weitreichende Rolle in der Dortmunder Neonaziszene. So wird beispielsweise jedes Jahr die Gedenkveranstaltung am 9. November zur Reichspogromnacht in Dorstfeld gestört, in dem der Antisemitismus offen ausgelebt wird. Aktuell unterstützen Dortmunder Neonazis die „Solidaritätsaktionen“ für die notorische Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck, die sich zurzeit in Haft befindet. Auch die Nutzung von Pyrotechnik stellt keine Neuigkeit dar. Demonstrationen solcher Art sind selbstwirksam für die Szene. Sie versuchen sich in Dorstfeld und Marten als relevante Kraft darzustellen und inszenieren dafür auch Pyroshows, die zu Zustimmungsbekundungen von „Anwohnern“ umgedeutet werden. Es handelt sich dabei um ein öffentlichkeitswirksames Mittel für eine größtmögliche mediale Reichweite.

Der mediale Aufschrei blieb nicht aus. Auf Twitter kursierten Videos und Bilder der rechtsextremen Demonstrationen. Neben der nachvollziehbaren Empörung über Antisemitismus wird aber ebenfalls das geringe Polizeiaufgebot kritisiert. Personen, die das Geschehen dokumentierten, beschreiben die Situation als gefährlich und ungewöhnlich. Die Dortmunder Polizei steht daher in scharfer Kritik – insbesondere aufgrund des Besuchs des NRW-Innenministers Reul, der zeitgleich eine Razzia in der Nordstadt gegen Clankriminalität live begleitete und kein Wort über die stattfindenden Demonstrationen der Neonazis verliert. Mittlerweile hat die Polizei angegeben, eine Nachbereitungsgruppe initiiert zu haben, um die Kritik und den Einsatz von Polizeikräften zu überprüfen. Nichtsdestotrotz konnten sich die Neonazis bei der Demonstration relativ frei bewegen, um laut Augenzeugen auf Dächer zu klettern und Pyrotechnik zu zünden. Ebenso besteht eine Gefahr für Personen, die potenzielle Betroffene von rechter Gewalt sind, wenn Neonazis kaum von Polizeikräften begleitet werden. Neben der Lokalpresse gibt es viele überregionale Berichterstattungen über diese Vorfälle. Zwar sind Berichterstattungen sehr wichtig, aber eine überhöhte Skandalisierung nutzt vor allem der Selbstinszenierung der Neonazis. Eine Einordnung zur Historie und in die Struktur der rechtsextremen Szene in Dortmund sowie deren Demonstrationskultur wäre hilfreich gewesen,  um rechtsextremen Strategien etwas Wirksames entgegenzusetzen. Eine nüchterne und analytische Berichtersttattung geht dabei auch nicht auf die Propagandastrategien der Neonazis ein. Somit ist es ihnen wieder gelungen, mit kleinem Aufwand eine große Wirkung – bundesweit in den Medien – zu erzielen.

Hätten die Demonstrationen verhindert werden können?

Die Dortmunder Polizei hat den Versuch unternommen, die Demonstrationen im Vorfeld erheblich einzuschränken: Die Nutzung des Wilhelmplatzes und eine Wegstrecke in der Thusnelda- und der Emscherstraße sollte verboten werden. Die Inanspruchnahme dieser Örtlichkeiten als „Kiez der Rechtsextremisten“ stellte nach Ansicht der Polizei einer Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, weil ein Angstraum für die dort lebende multikulturelle Gesellschaft geschaffen wird. Diese Begründung ist jedoch vor dem Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen und vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster gescheitert – ein weiterer juristischer Erfolg für die Neonazis. Allerdings wäre ein höheres Polizeiaufgebot sinnvoll gewesen, um diesen selbst formuliereten Anspruch auch gerecht zu werden und umzusetzen.

Wieso ist ein zivilgesellschaftlicher Gegenprotest notwendig?

Gegenprotest der Dortmunder Zivilgesellschaft gab es nicht. Vielleicht lag es an der Kurzfristigkeit der Demonstrationen. Allerdings ist es ein fatales Signal der Zivilgesellschaft, keinen Gegenprotest zu äußern. Gerade im Kontext des vorausgegangenen Festes für eine demokratische Kultur wäre es wichtig gewesen, für ein „vielfältiges Dorstfeld“ einzustehen, wenn Neonazis diesen Anspruch offensiv in Frage stellen. Es ist wichtig, sich an solchen Tagen in der Öffentlichkeit gemeinsam gegen Rechtsextremismus und menschverachtende Parolen zu positionieren. Feste und Veranstaltungen, die demokratiefördernd wirken sollen, reichen allein nicht aus. Rechtsextremismus als gesamtgesellschaftliches Problem geht uns alle etwas an – es bedarf neben Veranstaltungen für Demokratie und Vielfalt, eine dauerhafte Sensibilisierung menschenverachtender Ideologien, öffentlichen Gegenprotest und staatliche Mittel zur erfolgreichen Bekämpfung von Rechtsextremismus. Das Projekt Quartiersdemokraten versucht hierfür Unterstützung zu leisten und ist ansprechbar für Ideen und Anregungen!